Das Land Israel kenne ich inzwischen sehr gut. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich im „Heiligen Land“ aufhalte, mich faszinieren die Widersprüche und die Menschen in Israel. Ich habe sehr viele Freunde in Jerusalem, Tel Aviv, Akko, Haifa, im Westjordanland und in Lod, die in Hip-Hop- und Hardcore-Bands spielen. Israel hat nur 7,5 Millionen Einwohner, doch die Musik-Szene ist sehr groß und vielfältig.
Als ich im Mai 2008 im Nahen Osten auf der Suche nach jungen Musikern war, kam ich durch einen Zufall nach Lod. Lod ist die Stadt mit der größten Arbeitslosigkeit und der höchsten Kriminalitätsrate in Israel. Ich spürte die Besonderheit dieser Stadt. Eine „gemischte Stadt“, wie manche Städte in Israel, in denen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion miteinander leben: Juden, Araber, Russen, Georgier, Äthiopier und Pakistani. Ein unglaublich „fotogener“ Ort mit einer besonderen Energie.
Ich spürte, dass die sozialen und gesellschaftlichen Widersprüche in Lod am schärfsten sind – und hatte damit eine Idee für meinen Dokumentarfilm gefunden.
Ich informierte mich über die Möglichkeiten und fand heraus, dass meine Hochschule Partnerhochschule der Bezalel University ist. Somit stand für mich fest – ein Auslandssemester in Israel wird es mir ermöglichen, mein Projekt zu verwirklichen.
Als ich im Mai 2009 erfuhr, dass ich einen Platz in Jerusalem bekommen habe, freute ich mich sehr. Gleichzeitig bereitete ich mein Filmprojekt vor: ich stellte Anträge auf Filmförderungen (NRW- Filmförderung, Sundance Film Festival)
Ich bin am 28. September von Köln nach Tel Aviv geflogen. Ein Kommilitone aus Dortmund begleitete mich auf der Reise, denn er hatte beschlossen, auch ein Auslandssemester in Israel zu absolvieren. Wir waren sehr glücklich darüber, dass wir zu diesem Zeitpunkt schon eine Wohnung organisiert hatten, denn die Unterkünfte in Jerusalem sind teuer und nicht leicht zu finden. Durch eine Bekannte aus Berlin ist es uns gelungen, zwei Zimmer in einer Fünf-Zimmer-Wohnung zu finden. Diese war jedoch nicht nah an der Universität, dafür aber relativ günstig. Es ist Geschmacksache, aber ich würde davon abraten, im Studentenwohnheim zu wohnen. Es ist nah an der Uni gelegen (ca. 10 Minuten Fußweg), aber das Problem ist, dass die kleinen Zimmer überteuert sind. Für ein 8-10 qm großes Zimmer zahlt man bis zu 500 Dollar. Deshalb bevorzugte ich eine halbstündige Busfahrt zu der Uni statt eines kleinen Zimmers auf dem Campus.
Der Straßenverkehr ist ein Manko in Jerusalem. Egal zu welcher Uhrzeit man unterwegs ist, die Straßen sind überfühlt. Jerusalem besitzt nur einen Busnetz, an einem Tramnetz wird seit Jahren gebaut. Die Firma, die für das neue Tramnetz verantwortlich ist, ist bankrott und deshalb gehen die Bauarbeiten nur zögerlich voran. Für Studenten ist der Nahverkehr relativ günstig, ein 10-er Ticket kostet 48 Shekel (knapp 10 Euro). Allgemein ist es sehr laut, die Leute sind laut, die Straßen sind laut und es ist besser, sich daran zu gewöhnen. Sonst gibt es auf der Welt nicht viele Plätze oder Ortschaften, die so extrem widersprüchlich und angespannt sind wie manche Viertel in Jerusalem. Mann bewegt sich z.B. durch das ultra-orthodoxe jüdische Viertel Mea Shearim und fühlt sich dabei wie in eine komplett andere Zeit zurück katapultiert. Ein extrem anderes Lebensgefühl, das hauptsächlich der Religion dient. Für eine europäisch, „touristisch“ gekleidete Frau kann es unangenehm werden, denn eine Frau sollte ihre Reize nicht offenbaren (genauso wie bei der muslimischen Bevölkerung). Nur einige Meter weiter befindet sich das arabisch- muslimische Viertel Sheikh Jarrah, wo die Bevölkerung teilweise in sehr ärmlichen Verhältnissen lebt. Dieses Bild ist typisch für Jerusalem, die Hauptstadt der drei monotheistischen Religionen: extreme soziale und religiöse Gegensätze auf einem engen Raum.
Gemessen am Lebensstandard sind die Preise in Israel ziemlich hoch, gerade bei Lebensmitteln und in der Gastronomie. Ein durchschnittliches Einkommen beträgt ca. 800 Euro, und die Preise in den Supermärkten sind teilweise höher als in Deutschland! Als Student sollte man also die Supermärkte meiden und am „Shuk“ (dem Straßenmarkt) einkaufen gehen. Das Obst und Gemüse ist dort viel günstiger und es schmeckt auch noch nach Obst und Gemüse.
Die Währung in Israel heißt Shekel (nis). Ein Euro entspricht ca. 5 Shekel.
Für den Shabbat sollte man am besten vorsorgen. Am Freitagnachmittag schließen in Jerusalem die Märkte, die Supermärkte, die Kneipen und der Nahverkehr und öffnen erst am Samstagabend gegen 20 Uhr. Die Kneipen und Imbisse, die während des Shabbats geöffnet sind, kann man an einer Hand abzählen. Dafür gibt es zwei Lösungen: Entweder du hast Freunde, die dich zum Shabbat-Abendessen einladen oder du kaufst im arabischen Viertel ein.
Die Bezalel University befindet sich an der östlichen Peripherie der Stadt, am Mount Scopus. Der Blick ist umwerfend: Weiter Richtung Osten ist das Tote Meer zu erkennen, Richtung Norden liegt das Westjordanland und die Stadt Ramallah.
Die Bezalel Academy of Arts and Design ist eine staatliche Kunst – und Design Hochschule mit ca. 1500 Studenten. Die Bezalel wurde 1906, damals noch im osmanischen Jerusalem, gegründet und ist heute die größte Kunsthochschule im Nahen Osten.
Mit dem Bus erreicht man zunächst die Hebrew University, die unmittelbar vor der Bezalel liegt. Es ist ein riesiger Campus und die Kontrollen sind so streng wie am Flughafen. Die Studenten weisen sich aus, die Taschen werden von der Sequrity durchsucht. Als Auslandsstudent zahlt man keine Studiengebühren, aber für die Sicherheit bzw. die Sequrity zahlt man 200 Shekel (ca. 40 Euro) pro Semester. Das Wetter im Oktober ist immer noch hochsommerlich und der blaue Himmel ist nicht wegzudenken.
Anfang Oktober fing der Sprachkurs an der Universität an. Da einige Kurse auf Hebräisch stattfinden sollten, entschied ich mich, zuerst den Sprachkurs zu besuchen. Es fiel mir schwer, die hebräische Sprache zu lernen, sie ist anders als jede andere Sprache, mit der ich mich bis dahin beschäftigt hatte. Drei Stunden wöchentlich ist gerade auch nicht viel, nach einigen Wochen reichte es jedoch aus, um im Alltag einigermaßen zurechtzukommen. Dagegen bräuchte man Jahre, um die Schrift beherrschen zu können.
In Dortmund studiere ich Film- und Fernsehkamera, in Jerusalem heißt das Fach Screen Based Art. Bedeutet inhaltlich: Mehr Kunst als Film! Im ersten Semester hatte ich zwei filmische Fächer: Experimental Video bei dem renommierten israelischen Filmemacher Avi Mograbi und Introduction to Cinema beim Filmemacher Yair Lev.
Der Alltag an der Bezalel University ist in manchen Punkten sehr ähnlich wie an der FH Dortmund. Die Filmklassen umfassen in der Regel nicht mehr als 10 Studenten. Es wird viel gekuckt und darüber diskutiert. Dafür ist der Umgang zwischen den Professoren und den Studenten enorm anders als in Deutschland. An der FH Dortmund hören die Professoren bei der Vorstellung eines Filmprojekts hauptsächlich zu, an der Bezalel reden sie ununterbrochen. Das liegt wohl auch an der israelischen Mentalität, wie ich später feststellen konnte.
Nach anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten wurde es für mich persönlich spannend und interessant. Ich konnte irgendwann offen und ehrlich auch über mein eigenes Projekt mit den Professoren sprechen und sie gaben mir gute Ratschläge.
Das erste Semester war nicht gerade zeitintensiv. Ich belegte insgesamt 4 Kurse, die einmal pro Woche für 3-4 Stunden angesetzt waren. Dabei machte ich neue Erfahrungen, indem ich Kurse aus anderen Studiengängen belegte wie z.B. Zeichnen aus dem Art Department oder das Fach Israel Place and Culture, welches nur für die Auslandsstudenten angeboten wurde.
Trotzdem hielt ich mich anfangs den ganzen Tag an der Uni auf. In der vorlesungsfreien Zeit saß ich oft in der Bibliothek oder im Atelier im Art Department. Ich lernte sehr viele Auslandsstudenten aus der ganzen Welt kennen: Tschechien, Deutschland, Kanada, Russland ... Und auch einheimische Studenten. In meinem Jahrgang gab es ca. 70 Auslandsstudenten, in meinem Studiengang an der FH Dortmund gab es letztes Jahr eine einzige Austauschstudentin. Mit vielen von ihnen bin ich jetzt noch sehr eng befreundet.
Ende Oktober 2009 bekam ich eine sehr erfreuliche Nachricht aus Deutschland: Mein israelisches Filmprojekt wird von der NRW- Filmstiftung mitfinanziert, ich bekam die Filmförderung! Dadurch änderte sich vieles. Ich begann jedes Wochenende in Lod zu filmen, endlich waren die Mittel da. Es stand auch fest, dass dies mein Diplomfilm sein wird.
Diese Tatsache beeinflusste auch meine spätere Entscheidung, noch ein Auslandssemester dranzuhängen. Wie sich später herausgestellt hat, war es für meine Abschlussarbeit sicherlich die richtige Entscheidung.
Das zweite Semester unterschied sich wenig von dem ersten. Ich musste mich anfangs für die neuen Kurse einschreiben, dabei hatte ich komplett freie Wahl. Für mich persönlich war es nur notwendig,
10-20 Credit Points abzudecken, und im ersten Semester hatte ich schon 7 Punkte geschafft.
Ich entschied mich, das Fach „Documentary Film“ bei dem Dozenten Tomer Heymann gegen Experimental Video einzutauschen.
Als ich später die Dreharbeiten für meinen Film fortsetzte, unterstützte mich Herr Heymann sehr. Gemeinsam mit ihm schaute ich das gedrehte Material und stellte fest, dass ein vierter Protagonist den Film vorantreiben würde. Es war jedoch nicht einfach, diesen zu finden. Ich war lange auf der Suche, bevor ich Liron, den vierten Protagonisten aus Lod, gefunden habe.
Außerdem traf ich mich mit Tomer Heymann auch außerhalb der Universität, wir diskutierten intensiv auch in seiner privaten Wohnung in Tel Aviv.
Nebenbei arbeitete ich an einem fotografischen Konzept. Ich kaufte mir eine günstige, plastische Mittelformatkamera der Marke Holga, die eher an ein Kinderspielzeug erinnert als an eine Fotokamera. Mit dieser Kamera sind mehrere Überbelichtungen möglich und das bedeutet – das Resultat bzw. das Foto ist ein Zufallsprodukt.
Diese Technik (in der Musikwelt bekannt als „Aleatorik“) entdeckte ich als Metapher für den Nahen Osten: Der ewige Konflikt zwischen Juden und Arabern und diese zwei parallelen Welten, die nebeneinander leben.
Den Abschied von Israel betrachte ich mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite bin ich glücklich, wieder in Deutschland zu sein, wieder meine Familie und Freunde sehen zu können.
Zum Ende meines Aufenthalts in Israel sehnte ich mich nach Berlin und Dortmund. Die letzten zwei Monate waren sehr arbeitsintensiv. Es war nicht einfach, mit der Hitze im Juli und August zurechtzukommen. Wer keine „Aircondition“ zu Hause besitzt, der leidet. Außerdem war ich von der permanenten politischen Anspannung, die zum größten Teil in Jerusalem herrscht, etwas übermüdet. Jerusalem ist definitiv keine Stadt zum Entspannen.
Auf der anderen Seite habe ich im Nachhinein das Gefühl, manche andere Ortschaften, die man gesehen haben muss, verpasst zu haben.
Dieses kleine Land verbirgt mehr, als man auf den ersten Blick glauben mag. Die Israelis haben einen Spruch: „Tel Aviv ist die Stadt zum Amüsieren, Jerusalem ist die Stadt zum Beten und Haifa ist die Stadt zum Arbeiten.“ So viele soziale und politische Widersprüche innerhalb einer Gesellschaft wie in Israel gibt es selten auf der Welt.
Die Zeit in Israel hat mich persönlich verändert. Ich wurde mit harten Lebensgeschichten und mit faszinierenden Persönlichkeiten konfrontiert, die eine andere Realität repräsentieren und anders leben als in Deutschland.
Ich habe in Israel ein tolles Thema für meine Diplomarbeit gefunden, welches mich immer noch fasziniert.
Über die Möglichkeit, in Israel mein Diplom zu beenden oder sogar den Master zu absolvieren, werde ich noch nachdenken müssen.
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